Würzburger Erklärung des Freiburger Kreises

vom 1. März 1999

Die mögliche Regierungsbeteiligung in Hessen und der damit verbundene Wählerauftrag, über den Bundesrat die deutsche Politik mitzugestalten, können für die F.D.P. eine Chance sein. Zunächst muß es ihr gelingen, die längst überfällige Reform des Staatsangehörigkeitsrechts durchzusetzen, in der vor allem der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit Geburt, das jus soli, für hier geborene Kinder verankert werden muß.

Das hessische Wahlergebnis darf jedoch den Blick nicht dafür verstellen, daß die unerwartete Chance mit dem Verlust eines Drittels aller bisher auf die F.D.P. entfallenden Zweitstimmen, also mit einem Zweitstimmenrückgang von 2,3 Prozentpunkten einherging. Die Stimmenverluste erstrecken sich auf alle Altersgruppen. Allein 54.000 ehemalige
F.D.P.-Wähler haben in Hessen ihre Zweitstimme der CDU übertragen. Als vorläufiger Endpunkt einer langen Serie von Mißerfolgen und Stimmenverlusten bei Kommunal- und Landtagswahlen, wie auch bei der letzten Wahl zum Deutschen Bundestag, zeigt das hessische Wahlergebnis überdeutlich, wie bedrohlich die Situation der Partei in dem bevorstehenden Marathonwahljahr ist, in dem noch eine Reihe von Kommunal- und Landtagswahlen und die wichtige Wahl zum Europäischen Parlament zu bestehen sind.

Dabei war die Ausgangslage für die F.D.P. in Hessen hervorragend wie selten: eine bekannte und erfahrene Spitzenkandidatin, massive Wahlkampfunterstützung durch die Spitze der Bundespartei, ihre inhaltliche und durch keinerlei parteiinterne Kritik gestörte Geschlossenheit, ein Zweistimmenwahlsystem, das das Funktionsargument für die F.D.P. verstärkt und ihr ausgezeichnetes Profil beim Thema Staatsangehörigkeitsrecht. Daß die F.D.P. dennoch erhebliche Stimmeneinbußen hinnehmen mußte und die 5%-Hürde nur so gerade überspringen konnte, macht nicht nur eine ehrliche und gründliche Wahlanalyse, sondern auch das vorbehaltlose Überdenken ihrer inhaltlichen und strategischen Ausrichtung sowie der Art und Weise ihrer öffentlichen Darstellung notwendig.

Das Fünfparteiensystem ist seit mehreren Jahren etabliert. In allen Parteien zeigen sich zum Teil markant unterschiedliche Strömungen. Die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen erweist sich zunehmend als handwerklich überfordert und als innovations- und reformunfähig. Bündnis 90/Die Grünen werden die Reste ihres politischen Profils der Koalitionsräson opfern und durch innerparteiliche Auseinandersetzungen zusätzlich geschwächt werden. All das eröffnet der F.D.P. die große Chance, jene im Kern liberal und sozial gesinnten Wähler zurückzugewinnen, die eine aufgeklärte, offene Gesellschaft und einen zurückhaltenden, innovativen Staat wollen, die sich vom Rechtspopulismus der CDU/CSU à la Stoiber und Koch ebenso wenig angezogen fühlen wie vom Linkspopulismus der SPD à la Schröder und Schily oder deren unaufhaltsame Annäherung an die PDS.

Es muß sich jetzt zeigen, ob die F.D.P in der Lage ist, die dringend notwendige innerparteiliche Auseinandersetzung um ihre Positionierung in der inzwischen etablierten Parteienlandschaft sachlich und argumentativ zu führen.

In der Opposition kann und muß die F.D.P. wieder ein Forum für intellektuell anspruchsvolle Debatten werden. Sie muß wieder vermehrt Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle und insgesamt kritische Menschen zum offenen Dialog über bisher nicht oder nur schlagwortartig diskutierte Zukunftsthemen einladen. Sie muß vor allem soziale Kompetenz zurückgewinnen: Selbstentfaltung in Solidarität, soziale Gerechtigkeit auch jenseits traditioneller Verteilungspolitik, Grundsicherung als Voraussetzung sozialer Sicherheit und Bürgerfreiheit sowie soziale Marktwirtschaft müssen als gleichberechtigte Teile liberaler Politik behandelt werden.

Das Verständnis der F.D.P. von der zukünftigen Rolle des Staates in einer immer internationaler werdenden Welt muß ein Schwerpunkt liberaler Programmatik werden. Angesichts globalisierter Finanz- und Kapitalmärkte und der ständig zunehmenden internationalen Fusionen muß sich die F.D.P. die Frage nach der zukünftigen Weltwirtschaftsordnung stellen: Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um das Entstehen marktbeherrschender Monopole zu verhindern? Neben einem vernünftigen nationalen Wettbewerbsrecht und einem europäischen Kartellamt muß auch die Kontrolle globaler Fusionen zum Thema gemacht werden. Wettbewerb ist unverzichtbarer Teil des freien Welthandels.

Auf nationaler und europäischer Ebene muß die F.D.P. eine konsequente markt- und innovationsorientierte, gleichermaßen dem sozialen Ausgleich verpflichtete Wirtschaftspolitik betreiben. Die Alternative zum konservativ-autoritären Schutzstaat und dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat ist der liberale und soziale Bürgerstaat, in den das von der F.D.P. mit Nachdruck zu verfolgende Bürgergeldkonzept als integraler Bestandteil eingebettet ist.

Die F.D.P. muß der europäischen Integration höchste Priorität einräumen. Sie muß die öffentliche Debatte zur Europäischen Verfassung mit einem Grundrechtskatalog vorantreiben. Es geht um die freiheitlich-demokratische Gestaltung Europas, um die Kompetenzen der europäischen Institutionen, um die Kontrolle deren Verwaltungshandelns, um die gerichtliche Durchsetzbarkeit der Rechte europäischer Bürgerinnen und Bürger und besonders um die Stärkung des Europäischen Parlaments. Die F.D.P. muß den Druck und die Dynamik, die die Europäische Währungsunion auf den politischen Integrationsprozeß ausüben wird, nutzen und sich zum Anwalt des Bundesstaats Europa machen.

Eine liberale Partei muß engagiert für Bürgerrechte eintreten. Die F.D.P. muß den ausgeprägten Tendenzen zu mehr Staat in der Innen- und Rechtspolitik eine Politik entgegensetzen, die sich zuallererst den individuellen Grund- und Freiheitsrechten verpflichtet weiß. Die F.D.P. darf nicht daran mitwirken, daß international gültige Konventionen zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Sonderabsprachen mit menschenrechtsverletzenden Staaten abgewertet und unterlaufen werden. Strikte Grundrechtsorientierung muß wieder zum Gütesiegel liberaler Politik werden. Wer das für eine Auseinandersetzung der 70iger Jahre hält, fällt in Wirklichkeit ins vorige Jahrhundert zurück. Das vom Bundesinnenminister Schily in Anspruch genommene sogenannte Grundrecht auf Sicherheit ist eine Kampfansage an das liberale Grundrechtsverständnis und führt unweigerlich zu einer Aushöhlung der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger. Im Zweifel für die Freiheit darf keine Floskel, sondern muß unentbehrlicher Programmsatz liberaler Politik sein.

Die Demokratie in Deutschland ist durch die ständig zunehmende fremdenfeindliche und antidemokratische Stimmung und durch rechtsextremistische und antisemitische Ausschreitungen gefährdet. Liberale müssen überall, wo es Hetze und Gewalt gegen Fremde, sogenannte ausländerfreie Zonen oder Geringschätzung der Demokratie gibt, initiativ werden, bürgerliches Engagement motivieren und fördern. Die F.D.P. muß ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung zur Verteidigung der freiheitlichen Demokratie stärker gerecht werden. Den 50. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes zu feiern, muß für die F.D.P. Verpflichtung und Auftrag sein.

 

Gerhart R. Baum, Eckhard Behrens, Dr. Michaela Blunk, Carola von Braun,
Dr. Burkhard Hirsch, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ingo Liermann,
Dr. Klaus von Lindeiner, Ursula Müller, Neithart Neitzel, Dieter Oligmüller

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