Berliner Morgenpost vom 14. August 2000

"M E I N U N G E N"

Die falsche Reform

Die Neuordnung der Gerichte nutzt dem Bürger nicht - Von Hansgeorg Bräutigam

Bürgernähe, Transparenz und Effizienz verspricht die Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, wenn sie für die von der rot-grünen Koalition im Bundestag eingebrachte Justizreform wirbt. So soll eine größere Zahl von Zivilverfahren als bisher in erster Instanz erledigt werden.

Als Beispiel wird der Handwerker präsentiert, der seine 70 000 Mark-Forderung gegen einen zahlungsunwilligen oder zahlungsunfähigen Auftraggeber durchzusetzen versucht. Damit das Verfahren möglichst schnell abgeschlossen werden kann, soll das Gericht künftig dahin wirken, «dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen».

Mit diesem Kernsatz hat die Bürgerfreundlichkeit ihr Ende. Einer grundlegenden Reform des deutschen Zivilprozesses, der sich nicht nur im europäischen Vergleich bewährt hat, bedarf es dazu nicht. Denn bürgerunfreundlich ist es, wie der Deutsche Anwaltsverein zu Recht einwendet, wenn dem rechtsuchenden Bürger zugleich die zweite Tatsacheninstanz genommen wird. Nur noch in ganz begrenzten Ausnahmefällen soll es ihm möglich sein, dem Berufungsgericht noch Tatsachen vorzutragen.

Mit dem Deutschen Richterbund stoßen sich die Anwälte ebenfalls zu Recht daran, dass auch in der Berufungsinstanz anstatt wie bisher drei Richter nur noch ein Richter den Fall beurteilen soll. Es gibt keinen Zweifel daran, dass das Sechs-Augen-Prinzip für mehr Gerechtigkeit und Rechtssicherheit spricht.

Zu alledem soll der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht daran gehindert werden, ein gerechtes Einzelfallurteil zu fällen. Er soll die Entscheidung nur noch korrigieren dürfen, wenn der Fall gleichzeitig auch der Fortbildung des Rechts dient.

Der baden-württembergische Justizminister Goll (FDP) bezeichnet die geplante Justizreform deshalb auch als «so überflüssig wie einen Kropf» und hält sie für einen «Etikettenschwindel». Er widersetzt sich der geplanten generellen Verlagerung der Berufungsverfahren von den Landgerichten an die Oberlandesgerichte. Dies bedeutet für alle Bürger einen hohen Zeitaufwand und erhebliche Reisekosten, die manchen Bürger dazu verleiten könnten, selbst bei guten Erfolgsaussichten aus wirtschaftlichen Gründen auf die Berufung zu verzichten. Goll weiß sich in dieser Sache einig mit den Bundesländern Bayern, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen.

Der bayerische Justizminister Weiß ist mit dem Deutschen Richterbund und der Anwaltschaft einig in der Ablehnung, in der ersten Instanz fast nur noch Einzelrichter einzusetzen. Wie die erforderliche personelle Stärkung bei den Amtsgerichten erreicht werden soll, bleibt ohnehin das Geheimnis der Bundesjustizministerin, die für diese Kosten auch nicht aufkommen muss. Denn mit den in der zweiten Instanz einzusparenden Richtern lässt sich die Lücke nicht füllen. Je Stunde, die ein Amtsrichter pro Sache mehr haben soll, um sich dem Streitstoff und den Parteien gründlicher zu widmen, entsteht - so heißt es - ein Bedarf von wenigstens 1000 zusätzlichen Amtsrichtern.

Wenn die geplante Justizreform Rechtswirklichkeit werden sollte, droht dem Rechtsschutz des Bürgers und der Justiz daher mehr Schaden als Nutzen. Der Justizministerin ist der Vorwurf zu machen, dass sie statt mit Augenmaß behutsame Korrekturen vorzunehmen, im ungewöhnlichen Hau-Ruck-Verfahren eine Reform durchsetzen will, ohne sich zuvor mit den dafür zuständigen Bundesländern zu verständigen und sich mit der Richterschaft und den Anwälten ins Benehmen zu setzen.

An diesem Mangel ist vor 30 Jahren der Bundesjustizminister Jahn von der ersten sozialliberalen Koalition schon gescheitert, obwohl ihm wirklich Augenmaß in der Rechtspolitik zu eigen war.

Was der teilweise noch immer «mittelalterlich» arbeitenden Justiz wirklich Not tut, ist eine bessere personelle und sachliche Ausstattung, damit vor allem der Bürger schneller zu seinem Recht kommt. Dann wäre allen geholfen.