General-Anzeiger vom 16.06.2000 Seite 04

POLITIK

"Es gibt keinen Nischen-Liberalismus"

"Es gibt keinen Nischen-Liberalismus"

GA-INTERVIEW Hans-Dietrich Genscher nimmt den Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt vor innerparteilicher

Kritik in Schutz, rät aber gleichzeitig, Partei- und Fraktionsvorsitz nicht in einer Hand zu belassen

BONN. Hans-Dietrich Genschers öffentliche Interventionen zur innerparteilichen Situation der FDP sind seltener geworden. Über die Lage der Liberalen vor dem Nürnberger Parteitag sprachen mit dem Ehrenvorsitzenden der Freien Demokraten, Ekkehard Kohrs, Joachim Westhoff und Thomas Wittke.

GA: Feiert die FDP ihre Triumphe nicht zu sehr im Stillen?

GENSCHER: Der Rückenwind des Wahlsieges in Nordrhein-Westfalen wird auf dem heute beginnenden Parteitag kräftig genützt werden. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass man nach dem Sieg in Nordrhein-Westfalen bundesweit eine Mobilisierungs- und Mitgliederwerbe-Kampagne in Gang gesetzt hätte. Die FDP darf nicht nochmal wie vor vier Jahren nach den erfolgreichen Wahlen in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Chance verspielen, aus großen Wahlerfolgen in den Ländern einen bundespolitischen Trend zu machen.

GA: Es wird in Nürnberg eine Debatte über neue politische Optionen geben. Steht die FDP vor einer Renaissance des Sozialliberalismus?

GENSCHER: Es wird in Nürnberg einen Parteitag liberaler Identitätsfindung und Unabhängigkeit geben. Insofern bildet der Parteitag einen Kontrapunkt zu dem Kapitulationsparteitag der NRW-Grünen am Wochenende in Bonn. Auf deren Tagesordnung steht die Identitätsaufgabe und die Unterwerfung unter die SPD.

GA: Ist Nürnberg der Anfang für eine neue Welle von sozialliberalen Koalitionen?

GENSCHER: Die FDP definiert sich doch nicht aus ihrem Verhältnis zu anderen Parteien, sondern aus ihren Grundüberzeugungen, die moderner sind als jene anderer Parteien. Unabhängige Positionen waren und sind das Markenzeichen meiner Partei. Sie hat damit über Jahrzehnte - ihre zahlenmäßige Stärke weit übersteigenden - Einfluss in Bund und Ländern gehabt. Sie hat allein oder mit anderen für alle Durchbrüche zu einem modernen und weltoffenen Land gesorgt. Denken Sie an die Soziale Marktwirtschaft, die Westintegration, die inneren Reformen, an die Ostpolitik und die KSZE und an den NATO-Doppelbeschluss als Voraussetzung für einen gerechten Ausgleich mit dem Osten. Die FDP konnte das nur, weil sie innerlich völlig unabhängig war. Die politischen Probleme suchen sich schon ihre Mehrheiten.

GA: Aber im Grunde sind die Unterschiede zwischen den Vorstellungen der Freien Demokraten und dem Schröder/Blair-Papier nur mit der Lupe ausfindig zu machen.

GENSCHER: Es ist schon wahr, die SPD Gerhard Schröders und Wolfgang Clements bewegt sich mit großen Schritten auf die FDP zu. Aber gilt das für die ganze SPD? Wir als Liberale leben dagegen in unserer Zeit, die Abschied nimmt von der Massengesellschaft und sich hinwendet zu Individualität und Selbstverantwortung.

GA: Wieso?

GENSCHER: Weil durch die neuen Technologien und den Eintritt in die Informationsgesellschaft Individualität und Selbstverantwortung im Bewusstsein der Menschen einen sehr viel breiteren Raum einnehmen. Wir müssen die Globalisierung gestalten, uns gegen die Kleinmütigen wenden, die nur die Risiken betonen. Es geht darum, Zukunftsverantwortung wahrzunehmen.

GA: 18 Jahre Außenminister Hans-Dietrich Genscher, sechs Jahre Klaus Kinkel, jetzt herrscht bei der FDP außenpolitisches Desinteresse pur.

GENSCHER: Die FDP muss die Außenpolitik neu entdecken. Es war ein fataler Fehler, sie mit der Begründung zu vernachlässigen, damit könne man keine Wahlen gewinnen. Gerade in der Globalisierungsdebatte ist die Außenpolitik von größter Bedeutung.

GA: Wo ist der Beweis, dass man damit Wahlen gewinnen kann?

GENSCHER: Ich habe mich bei den Bundestagswahlen 1980, 1983, 1987 und 1990 mit meiner Außenpolitik zur Abstimmung gestellt - mit einigem Erfolg. Nehmen Sie heute die Europapolitik. Die CDU/CSU wendet sich mehr und mehr vom europapolitischen Kurs der alten Koalition ab. Man spürt, wie stark der europapolitische Einfluss von Helmut Kohl war. Die Union steht jetzt in der Gefahr, dass sie sich außen- und europapolitisch ähnlich isoliert wie vor 30 Jahren bei der Debatte um die Ostverträge und die KSZE-Schlussakte von Helsinki.

GA: Was ist mit der Bildungs- und Verkehrspolitik?

GENSCHER: Jürgen Möllemann hat sie in Nordrhein-Westfalen mit viel Erfolg zum Wahlkampfthema gemacht. Er hat wie zuvor Wolfang Kubicki, Rainer Brüderle und Walter Döring den Weg zum Erfolg gezeigt. Das sollte in Berlin beachtet werden, damit die FDP auch im Bund wieder Wahlen gewinnt. Vor allem ist es Jürgen Möllemann gelungen, die Jugend wieder zu gewinnen.

GA: Es fehlt ein Lob auf Guido Westerwelle.

GENSCHER: Er kommt auch noch zu seinem Recht. Mir ging es hier darum, Beispiele von Parteifreunden aufzuzeigen, die in ihren Ländern die FDP zum Erfolg geführt haben.

GA: Beim Nürnberger Parteitag behandeln die Freien Demokraten einen Antrag zur liberalen Sozialpolitik. Ist das ein Instrument, um von dem kalten Image der Besserverdienenden-Partei wegzukommen?

GENSCHER: Basis einer liberalen Partei ist das Menschenbild des Grundgesetzartikels eins. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eine humane Gesellschaft darf die Schwachen nicht fallen lassen. Soziale Marktwirtschaft und sozialer Rechtsstaat sind Ausdruck liberalen Gesellschaftsverständnisses. Deshalb bleibt die Sozialpolitik für uns so wichtig.

GA: Das war nicht immer so.

GENSCHER: Es war gewiss ein Fehler, mit schlimmen Folgen seit Mitte der 90er Jahre. Walter Döring, Rainer Brüderle, Wolfgang Kubicki und Jürgen Möllemann setzen auf ein liberales Menschenbild, deshalb haben sie gewonnen.

GA: Polit-Juppie Westerwelle will mit Begriffen wie Nächstenliebe, sozialer Wärme und Herz werben.

GENSCHER: Ich halte diese und auch das öffentliche Werben von Guido Westerwelle für liberale Politik für ausgesprochen gut. Themen wie etwa die Rentenversicherung sind für Millionen von Menschen Schicksalsthemen. Sie kann man nicht wie in einem volkswirtschaftlichen Seminar abhandeln.

GA: Zu dieser Debatte hört man von der FDP kaum etwas.

GENSCHER: In der Debatte um die Rentenversicherung werden jetzt von allen uralte FDP-Forderungen als notwendig bezeichnet. Die FDP kann sich bestätigt fühlen.

GA: Ist es ein Zufall, dass ein weiterer Leitantrag den Titel "Mehr Demokratie wagen" trägt?

GENSCHER: Diese Worte standen 1969 in der Regierungserklärung Willy Brandts. Das zeigt, wie stark damals das Gewicht der FDP war. Der Leitantrag steht also in bester liberaler Tradition.

GA: Aber nur von strategischen Optionen und Öffnungen zu reden, reicht doch nicht aus.

GENSCHER: Wir müssen die ganze Breite liberaler Politik betonen. Der Sachverständigenrat für Umweltschutz lässt der rot-grünen Regierung eine so vernichtende Beurteilung angedeihen wie keiner Koalition zuvor. Die Grünen haben in ihrem Gründungsthema abgedankt. Unsere Partei hat dieses Thema dagegen als erste aufgegriffen. Deswegen müssen wir das jetzt noch stärker thematisieren. Man muss doch kein grüner Oberregulierer sein, wenn man die natürlichen Lebensgrundlagen schützen will.

GA: Die Partei muss sich also programmatisch verbreitern.

GENSCHER: Ich habe mich wiederholt gegen eine thematische Verengung der Partei gewendet. Liberalität duldet keine Verengung. Es gibt keinen Nischen-Liberalismus, weil die Idee der Freiheit eine Umfassende ist, sie beinhaltet auch die Idee der Verantwortung. Hier wird es auf dem Bundesparteitag wichtige Anstöße vor allem der Jungen Liberalen geben.

GA: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Vorsitzende der Partei?

GENSCHER: Eine außerordentlich bedeutsame. Er muss die FDP auch bundespolitisch auf Erfolgskurs führen, wie das in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen geschehen ist. Er muss dabei integrieren. Für die innere Integration der Partei kann er seine große persönliche Autorität einsetzen. Wir brauchen alle Liberalen für den Erfolg. In einer weltoffenen liberalen Bürgerpartei muss auch zum Beispiel Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihren Platz finden.

GA: Die Jungen Liberalen fordern, dass der Fraktions- und Parteivorsitz getrennt werden. Hat dieser Vorstoß Chancen?

GENSCHER: Das kann ich nicht voraussagen. Ich bin auch nicht Delegierter. Man sollte diese Frage nicht dogmatisch betrachten. Es kann Situationen geben, wo beide Ämter in einer Hand sinnvoll sind. Ich glaube allerdings, die wenigen Spitzenämter in der Opposition sollten von verschiedenen herausragenden Liberalen besetzt werden.

GA: Von Ihnen stammt das Wort: Einen Parteivorsitzenden stützt man oder stürzt man.

GENSCHER: Richtig. Und deshalb gefallen mir die Methoden nicht, sich mit aalglatten öffentlichen Lippenbekenntnissen für den Parteivorsitzenden auszusprechen und in Hintergrundgesprächen gegen ihn Fronten aufzubauen. Wolfgang Gerhardt hat Anspruch auf Loyalität. Dazu gehört auch, dass in Nürnberg eine Sach- und nicht eine Personaldebatte geführt wird.

GA: Ein Blick zur CDU.

GENSCHER: Der Übergang zu Merkel und Merz ist gelungen. Aber beide werden mit der Tatsache konfrontiert, dass die christdemokratischen Parteien in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges in eine Identitätskrise geraten sind. In Deutschland ist dieser Prozess durch die Einheit aufgehalten, aber nicht überwunden worden. Auch vor diesem Hintergrund haben die Liberalen eine große Zukunft.

GA: Also doch 18 Prozent?

GENSCHER: Die von Jürgen Möllemann vorgegebene Zahl halte ich als Perspektive für durchaus realistisch.

GA: Reicht ein Parteitag aus, um die neue Unabhängigkeit der FDP zu manifestieren?

GENSCHER: Natürlich nicht. Dieser Eindruck muss ständig neu bestätigt werden. Auf die Bundestagsfraktion und die Bundespartei kommen große Aufgaben zu. Wir sind in der Mitte der Legislaturperiode. Jetzt beginnt der Bundestagswahlkampf. Deshalb muss eine organisatorische Erneuerung der Partei stattfinden. Vor allem in den neuen Bundesländern müssen neue Organisationsstrukturen geschaffen werden. Die neuen Bundesländer verdienen auch in der Sache stärkere Zuwendung.

GA: Als Fazit: Würde die FDP sich als bundespolitischer Koalitionspartner der SPD sehen?

GENSCHER: Als Fazit: Wir sind wir. Aber die SPD wird sich sehr genau überlegen, ob sie eine Bundestagswahlniederlage in der Größenordnung Nordrhein-Westfalens riskieren will. Rot-Grün hat keine Zukunft.

Autor: OHR/WE/TWI

Dokumentnummer: 000616108

Datenbank GAZ

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